Ähnlich wie dieser leicht verspätete Text hat der "steirische
herbst" ein Timingproblem. Die meisten szenischen Veranstaltungen
finden nur dreimal statt. Ob etwas großartig, mittelprächtig oder
schlimmer ist, weiß der Besucher erst post festum. Verschärft wird das
Problem dadurch, dass die Akteure einem größeren Publikum praktisch
unbekannt sind. Dafür existiert allerdings dieser Raster: Große
Produktionen laufen in der List-Halle, mittleres, dafür technisch
Anspruchsvolles, gastiert im Dom im Berg, im Next Liberty, in der KUG
oder im Orpheum und der Rest findet im Heimatsaal oder sonst wo statt.
Zusätzlich zum Reigen der üblichen Ausstellungsmacher war die
herbsteigene Ausstellung "Liquid Asset" im Ex-Zollamt eine Bereicherung.
Sie ist noch bis 1. Dezember zu sehen und zeigt u.a. eine Menge
brauchbarer Videos zum Thema. Für Architekten besonders sehenswert: "In
Light of the Arc" von Zachary Formwalt, (mit)produziert vom steirischen
herbst. In perfekt kardierten Bildern, unterlegt von einem
schnörkellosen Text, zeigt Formwalt den Bau einer von Rem Kolhaas und
OMA konzipierten Börse in China und entwickelt dabei eine marxistische
Analyse des Kapitalismus. Große Teile dieser von Luigi Fassi und
Katerina Gregos kuratierten Ausstellung landen später auf der Athener
Biennale. Deren Besucher werden durch die dort befindlichen Exponate auf
den steirischen herbst verwiesen. Ob das touristische Folgen haben
wird, darf bei der momentanen Lage in Griechenland allerdings bezweifelt
werden.
Existenzieller Zirkus
Bestimmend für die Wahrnehmung des Festivals sind die "großen Aufführungen" zur Eröffnung. Und "H, an Incident" in der List-Halle nach Texten von Daniil Charms in der Inszenierung von "A Two Dogs Company/Kris Verdonck“ war tatsächlich eine Sensation. Niemals hat man eine Putzfrau herzzerreißender und abgrundtiefer brüllen gehört, nie waren die Prügeleien trauriger, nie klangen die Chöre süßer, nie waren die Ungeschicklichkeiten der Akrobaten kunstvoller. Kris Verdonck gelang es, die während des stalinistischen Terrors entstandenen, knappen Texte Charms ohne Verlust ihrer Intensität in eine große Form zu transportieren; vielleicht gerade deswegen, weil er sich weit vom schmerzhaften Minimalismus Charms entfernte, der, 1942 zwangseingewiesen in ein Irrenhaus, verhungerte. Es spricht für die Imagination und Virtuosität des Ensembles, dass es sogar den Einsatz der musikalischen Roboter, den Pomp der Technik vergessen machte.
Zu den technisch perfekten Arbeiten im Orpheum zählte das
hermetische, betäubend laute Tanztheater "Marzo" des Künstlerkollektivs
Dewey Dell. Wobei sich die Italiener durch den japanischen
Manga-Zeichner Yuichi Yokoyama verstärken ließen. Tolle Farben, tolle
Kostüme, tolles Licht, gute Choreographie, trotzdem viel Lärm um nichts
als Design. Ein weiterer technischer Overkill im Orpheum war "Kredit"
von Daniel Kötter/Hannes Seidl; eine multimediale Show gegen den
Neoliberalismus. Leider garantieren Stoßrichtung der Attacke und eine
komplexe Parallelführung verschiedenster künstlerischer Elemente für
sich allein noch keinen ästhetischen Gewinn. Stumme, unscharf
verwackelte Filmbilder, deren Legitimation darin bestand, dass sie
irgendwie reale Börsenleute zeigten, wurden von zwei Geräuschemachern
live vertont, dazu sang der Laienchor der Deutschen Bundesbank und wurde
Informatives zur Kapitalwirtschaft eingespielt: Virtuoser Mix, nicht
ganz falsch, aber doch zu wenig. Beim inhaltlichen Engagement des
steirischen herbsts hätte statt einiger wirtschaftstheoretisch
dilettierenden Künstler etwas wissenschaftliche Kompetenz nicht
geschadet. Nur die drei vielleicht? Sennet (Der flexible Mensch)
Streeck (Gekaufte Zeit) Colin Crouch (Postdemokratie).
Schräg, klassisch
Dafür bot Antonia Baehr mit ihrem "Abecedarium Bestiarium", in dem sie
ausgestorbene Tiere im Dom im Berg präsentierte, einen beinah genialen
Abend. Nacheinander schlüpfte sie in die Haut eines jedes Mal anderen
ausgestorbenen Tieres, das ihr von Freunden vorgegeben wurde:
Tasmanischer Beuteltiger, Dodo, Martelli-Katze, Stellersche Seekuh ...
Baehrs minimalistisches Konzept erzählt vom Umgang mit der Natur, von
unserer Beziehung zu Tieren, aber auch von schrägen, ausgegrenzten
Menschen und den Strategien ihrer Selbstbehauptung. Gefehlt hat an
diesem intensiven Soloabend von Antonia Baehr nur das Mastodon aus Bruce
Chatwins "In Patagonien". Aber der hat`s ihr leider nicht mehr
vorschlagen können.
Auch "Happy End", ebenfalls im Dom im Berg am Eröffnungswochenende,
war eine technisch aufwendige Produktion, die vor allem Ratlosigkeit
hinterließ. Ausgehend von Kafkas Romanfragment "Amerika" – die
apostrophierte, gleichnamige Installation des verstorbenen Malers
Kippenberg fand dann keinen Eingang in das Konzept – wurden Sätze aus
Kafkas Text gesucht, die sich auf Körperteile wie "Hand", Fuß" oder
"Kopf" bezogen, um dann tänzerisch realisiert zu werden: erst
chronologisch, dann a-chronologisch, wobei den Tänzern die Sätze über
Kopfhörer zugespielt wurden. Dass sie sich dabei über eine Karte der
USA bewegten, war ähnlich illustrativ wie die pittoresken Kostüme. Die
Tänzer hätten ein überzeugendes Konzept verdient, die Sounds von Peter
Böhm waren sehr gut, Rauschmeiers vis à vis projizierte Videos im
extremen Schlangenformat weniger.
Als eingangs die sakrosankten Sätze Kafkas auf Englisch rezitiert
wurden, entstand der Eindruck einer Art ... Kannibalisierung der
Literatur? Gar nicht kannibalistisch ging dafür das Theater im Bahnhof
gemeinsam mit dem Gaststubentheater Gößnitz bei der Bearbeitung von Hans
Leberts Roman "Die Wolfshaut" vor. Wegen urheberrechtlicher
Schwierigkeiten konnte die gemischte Truppe nur auf wenige Situationen
und Namen des Romanes zurückgreifen. Ausgangsthema war dann folgerichtig
das Scheitern der Probearbeiten – also ganz modern, die Entstehung des
Kunstwerkes als sein eigentliches Thema. In den nachgespielten Proben
(kokett mit Datumsangabe) entwickelt sich aber ein dichtes
Motivgeflecht: der gewohnt anthropologisch-ironische Blick auf ländliche
Institutionen, die Kluft zwischen Stadt und Land, aber auch auf die
zwischen der Wirklichkeit des Theaters und der gespielten Fiktion und
natürlich der historische bzw. gegenwärtige Faschismus als Thema von
Leberts Roman. Ed Hauswirth inszeniert und montiert – dem
pompös-wissenschaftlich angedrohten Konzept zum Trotz – den Abend
unaufgeregt-pragmatisch. Pia Hierzegger, furchteinflößend als
Darstellerin der Regisseuse, skizziert überzeugend die unvermeidlichen
gruppendynamischen Prozesse.
Schönes Scheitern demonstrierte der Theatermacher Boris Nikitin auf
der Grazer Probebühne mit "Sei nicht du selbst!" Schauspieler erzählen
abwechselnd in schönem Rhythmus, welche Einflüsse sie zu dem gemacht
haben, was sie sind. Dann beim Kochen und Essen auf der Bühne sind sie
"wirklich so". Und im letzten Teil tauschen sie ihre Identitäten – ein,
wie schon die extremen Gendertheoretiker feststellen mussten,
aussichtsloses Unterfangen. Trotzdem klug, gut gespielt, bedenkenswert.
Nicht ganz so überzeugend war Massimo Furlans „Gym Club“, eine
ebenfalls kleine Produktion im Heimatsaal. Anknüpfend an den hiesigen
Heros Schwarzenegger, wurde erst tüchtig Circletrainig betrieben, danach
gab eine durchaus heitere Demonstration, wie einem der eigene Körper
gerade durch seine radikale Formbarkeit abhandenkommt. Schwarzenegger
hat damals übrigens nicht im Liebenauer Stadion trainiert, sondern
bescheidener in der Kastellfeldgasse.
Interessantes Finish
Schriller, gelegentlich schwer erträglich, war "Sleeping Beauty" von der
hauptsächlich in New York agierenden Südstaatlerin Ann Liv Young. In
den Teilen eins und zwei, durchgehend in schwerem Rosa gehalten, mischt
sie das Dornröschenmärchen à la Disney auf. Die Teile drei und vier in
düsterem Schwarz sind dem Reich des Horrors und dem Bösen gewidmet. John
Waters und Divine lassen grüßen bei diesem Versuch, durch die
Oberfläche der US-Massenkultur in die Tiefe des amerikanischen Traumes
zu tauchen. Die "Sleeping Beautys & Sherry Truck", in der auch die
kleine Tochter der Regisseurin mitspielt, beschwören (immer so grell wie
nur möglich) Hippiementalität und Selbsterfahrung. Selbst die in der
Dunkelheit knurrenden und heulenden Ungeheuer der Finsternis sehnen sich
noch nach Heim und Familie, folgerichtig landen sie in einer Hupfburg.
Das an sich "Falsche", sentimentale Songs für das Karaoke oder mangelnde
Perfektion etwa bei "Balance" oder "Aplomb" von Ann Liv Young als
Balleteuse, werden so zu Elementen der Authentizität. Ann Liv Youngs
Trash erinnert an die Filme des verstorbenen Syberberg, aber während die
Arbeiten des Deutschen von der Geschichte ausgehen, wurzeln die
"Sleeping Beauties" in der Massenkultur – politisch sind beide.
Literaturdefizit
Anleihen bei Charms, Kafka und Lebert und die alljährlichen
"Randnotizen" – eine Art Blog. Das war´s dann, was die Literatur
betrifft. Selbst beim Generalthema "Liaisons dangereuses" wurde auf
jede Erwähnung des titelgebenden Romanes von de Laclos verzichtet.
Liegt die Logik dieser Abstinenz darin, dass Geschriebenes ohnehin bei
den vorherrschenden, spartenübergreifenden Projekten auftaucht? Der
steirische herbst setzt sich, ähnlich wie ein Studiofilm, aus den
unsichtbaren (aber spürbaren) Modulen der Filmhallen, aus seinen
Strukturen zusammen. Dazu zählen: die finanzielle Ausstattung, die
verfügbaren Spielstätten, die hiesigen Veranstalter, vor allem im
Bereich der Bildenden Kunst, und natürlich das Interesse der jeweiligen
Leitung. Liebhaber der Neuen Musik spielten moderne Opern, ein
theoretisch orientierter Intendant publiziert dicke Kataloge,
Intendantin Veronica Kaup-Hasler hat ihr Schwergewicht im
Experimentellen und im Tanztheater. Da an den anderen Strukturen nicht
viel zu ändern ist, steht eigentlich nur die Leitung des Festivals als
"Stellschraube" für allfällige Veränderungen zu Verfügung.