Die Natur ist einfach, die Natur seid ihr.» Mit dieser schlichten Formel leitet das Performance-Duo united sorry in seinen Programmtext zu «the forest project» ein. Einst war der Mensch in spiritueller Harmonie mit der Natur vereint, heute tankt ein profaneres Bewusstsein nur frische Luft in den Wäldern. «Und doch sehnen wir uns manchmal nach einer urtümlicheren Verbindung zur Natur. Woher kommt diese Lust? Woher überhaupt die Entfremdung?»
«Wie immer sind es mehr Fragen als Antworten, die uns bewegen», gibt
die Festivalleitung des steirischen herbsts in ihrem Vorwort unumwunden
zu. Gleichzeitig sprach das diesjährige Festivalmotto auch ausdrücklich
eine Warnung aus: «Liaisons dangereuses: Alliancen, Mesalliancen und
falsche Freunde». Was aus der geografischen Distanz noch wie eine
begriffliche Leerstelle wirkte, um diverse Themen, 108 Projekte, 500
Künstler und Theoretiker einen Festival-Monat lang zu klammern, fühlt
sich plötzlich inmitten unzähliger Wahlplakate, die Graz an diesem
Herbstwochenende wegen der Nationalratswahl verhüllen, sehr konkret an.
«Die Natur ist einfach, die Natur seid ihr», hätte in aller Schlichtheit
des Appells auch seinen Platz gefunden.
Mit Freizeit-Satyrn am Wasserfall
Einfach war natürlich nicht einmal der Weg zur Natur. Im
site-spezifischen Wahrnehmungsmodus wird die reine Kontemplation der
naturschönen Steiermark, dem «grünen Herzen Österreichs», schnell durch
die Geschichte geografischer Ortsbezeichnungen getrübt – wenn der Zug in
Judendorf hält oder an seinem Ziel: Peggau-Deutschfeistritz. «Då sit’zn
dö, dö allweil då sit’zn», mahnt das liebevoll in Fraktur gestickte
Motto der Peggauer Lurteuf’ln über ihrem Stammtisch. Im Gasthaus zur
Post sitzen an diesem Nachmittag allerdings ausschließlich Zugereiste
und stimmen sich mit warmen Getränken, Toilette und Heizung auf das
Naturerlebnis ein. In dunkler Holzgravur wachen «Gemeinschaft &
Tradition» über den Schaukasten, in dem die prächtige golddurchwirkte
Fahne der Kriegsveteranen Peggau-Deutschfeistritz auf ihren jährlichen
Einsatz wartet, bevor der Nachwuchs aus den steirischen Wäldern ins
Bundesheer zieht. «I hob’s scho gsäng, aba i sog nix!», meint die
freundliche Kellnerin lächelnd zu «the forest project» und verschwindet
hinter der Theke.
Auch die malerische Peggauer Burgruine bezeugt das charmante
Bekenntnis, das der 55-jährige niederländische Performer Robert Steijn
unten im Tal vor einer circa 70-köpfigen Gemeinde ablegt: Verheiratet
ist er seit Jahrzehnten mit der Stadt, mit dem wilden Wald betreibt er
gerade Ehebruch – dann stiefeln die zahlenden Voyeure der wehenden
grauen Langhaarmähne in den Wald hinterher. Dazu klampft eine Gitarre.
Schon bald ist man bei den united sorrys «zu Hause». Doch erst langsam
erkennt man im Gehölz vereinzelte Performer, die sich mit kleinen,
vorsichtigen Bewegungen aus ihrer Symbiose mit Baum, Boden oder Fels
lösen und dann wieder zu Skulpturen erstarren: ein minimalistisches
Natur-Schau-Spiel. Das Ende wird diese stille Versunkenheit wieder
aufgreifen: Nackte Körper ruhen im fließenden «Naturdenkmal» des
imposanten Wasserfalls. Nicht kitschfrei, aber doch poetisch. Dazwischen
muss man allerdings eine lange Weile sinnfreien Männlichkeitsritualen
beiwohnen, deren libidinöses Elend mit baumharter Schwanzverlängerung
und Efeukranz nüchtern kaum zu ertragen ist. Allein unter
Freizeit-Satyrn fühlt sich die fragile Tänzerin Eun Kyung Lee so
offensichtlich unwohl, dass sie über weite Strecken die
Beobachterposition der Zuschauer teilt.
Ob «the forest project» tatsächlich auf einen «Zustand grüner
Ekstase» zielte oder die Performance Art der Endsechziger parodieren
wollte, bleibt ein Mysterium des Waldes. Im letzten Kriegsjahr richtete
man übrigens eine Außendienststelle des KZs Mauthausen ein, deren
Häftlinge am Fuße der Peggauer Wand in der Stollenanlage arbeiten oder
sterben mussten. Das kam irgendwie auch vor («Warum müssen überhaupt
Waffenkammern sein?»). Welche Allianzen und Mesallianzen den
site-spezifischen Produktionsprozess in Peggau begleitet haben, hätte
man gerne gewusst.
Arnie’s Gym im Volkskundemuseum
Die Auftragsarbeit des steirischen herbsts war nicht die einzige
Produktion, in der internationale Künstlerteams erhellende – wenn auch
nicht immer im künstlerischen Sinne gelungene – Lokalbezüge herstellten.
2008 setzte der Italo-Schweizer Massimo Furlan bei den Wiener
Festwochen dem größten historischen Triumph der Österreicher («Wunder
von Cordoba») gegen Erzfeind Deutschland («Schmach von Cordoba») ein
außergewöhnliches Performance-Denkmal. Beim Reenactment des 3 : 2 (WM
1978, Argentinien) im Wiener Hanappi-Stadion spielte er 90 Minuten lang
die Laufwege der Fußball-Legende Hans Krankl ohne Ball nach.
In Graz beschäftigte ihn nun die wahrscheinlich einzige lebende Figur echten mythologischen Ausmaßes: Arnold Schwarzenegger, die «Steirische Eiche». Der berühmteste Exportartikel der Steiermark («Als Kind hasste ich alles in Österreich. Die klassische Musik und die Museen. Ich hasste diesen alten Scheiß») hatte sich allerdings als Gouverneur von Kalifornien durch die Vollstreckung diverser Todesurteile bei seiner Grazer Fangemeinde so unbeliebt gemacht, dass das einst nach ihm benannte Sport-Stadion heute UPC-Arena heißt. Doch Massimo Furlan nähert sich seinem «Jugendidol» sportlich, verlegt den «Gym Club» aber in den beschaulichen Heimatsaal des Grazer Volkskundemuseums. Während sich das Publikum auf gymnastischen Langbänken arrangiert, stöhnen und schwitzen fünf eher mäßig durchtrainierte bis schwerfällige Performancekörper in Echtzeit. Fischgrät-Parkett, die unverwüstliche blaue Turnmatte und der grandios-groteske Drill der Leibeserziehungsbeauftragten Anne Delahaye stellen das «burleske» Geschehen allerdings eher in eine preußische Traditionslinie. Historisch korrekt erinnert die kollektive Leibesertüchtigung im Kostüm der 60er Jahre noch immer an die «Ärztliche Zimmergymnastik» von Moritz Schreber, bevor sie sich durch Aerobic und Pilates globalisiert.
Auch wenn Arnie als Schaumstoff-Event zum Schluss die
Herkules-Apotheose mimen darf – auf Bodybuilding ist dieser «Gym Club»
nicht spezialisiert, schon weil er die Liaisons dangereuses zwischen
Mensch und Maschine ausblendet. Stattdessen turnt er eine
komisch-absurde Langzeitbelichtung von Körperdisziplinierung, die nach
quasi-religiöser Transzendenz strebt.
«Mohren-Apotheke» und «Gummi-Neger»
Im Moment der Schwebe befinden sich auch die sozialen Energien, die das
Festivalzentrum im Ex-Zollamt am Bahnhofsgürtel verdichten will. Im
Innenhof haben die Landschaftsarchitekten vom altelier le balto diesen
fragilen Zustand in kleine, halbtransparente Häuser übersetzt, die von
dünnen Metallstelzen in der Luft gehalten werden. Großformatig wirbt
Alain Bornains «Top 50» für die Ausstellung «Liquid Assets. Nach der
Transformation des Kapitals» mit internationalen Künstler-Perspektiven
auf die fehlende Transparenz im globalen Finanzsystem. Und tatsächlich
besitzt die 72.700.000.000 eine andere Präsenz, wenn sie als Ziffer
hinter dem Namen Bill Gates erscheint.
Auf dem Weg vom Bahnhofsgürtel in die malerische Grazer Innenstadt
passiert man das sichtbar strukturschwache «Annenviertel». Hier hat das
Zentrum für zeitgenössische Kunst den Figuren, Gegenständen und
Beschriftungen, die sich sonst gewohnt ins Stadtbild fügen, neonfarbene
Sprechblasen verpasst. «Ich bin eine Fantasie von träumenden Weißen –
allerdings schon ziemlich in die Jahre gekommen», bricht das Relief
einer Schwarzafrikanerin ihr Schweigen, die in äußerst unbequemer
Körperhaltung an der «Mohren-Apotheke» hängt. Einen Zusammenhang zum
Rassismus europäischer Kolonialgeschichte kann der Apotheker Christian
Müller allerdings auf Nachfrage nicht erkennen. Eher einen eklatanten
Mangel an Sachkenntnis österreichischer Tradition. Recht ungehalten
erinnert er an den berühmten Prinzenerzieher und Freimaurer Angelo
Soliman. (Der nach seinem Ableben, nebenbei bemerkt, ausgestopft und im
k. k. Hof-Naturalienkabinett ausgestellt wurde.) Am Schriftzug
«Gummi-Neger» («Wir führen ein großes Sortiment an Gummi-Waren,
Schläuchen, Dichtungen und Regenkleidung») eilt die ortsfremde
Besucherin dann lieber vorbei und recherchiert bei «Annenpost»-online.
Bei kritischen Nachfragen, ist dort zu lesen, erklärt der
Geschäftsführer Heinz Siegl den «Neger» kurzerhand zum Familiennamen.
Tatsächlich wollte man sich dereinst von der Konkurrenz in der Grazer
Herrengasse absetzen, die ihren Kautschuk aus Amerika bezog: dem
«Gummi-Indianer».
Castelluccis Manga-Kinder
In diese augenscheinliche Welthaltigkeit des Wahl- und
herbst-Wochenendes landete das Tanztheater des italienischen Kollektivs
Dewey Dell wie ein unbekanntes Gesamtkunstwerk im Auftrag eines fernen
Planeten. Seit 2007 arbeiten Agata, Teodora und Demetrio Castellucci –
die Kinder von Romeo – mit Eugenio Resta an einer Kunstsprache, die sich
vom Alltag hermetisch abschließt. Für «Marzo» haben sie mit dem
japanischen Manga-Comic-Zeichner Yuichi Yokoyama (Kostüme) zusammen
gearbeitet und mit Kuro Tanino, Dramatiker und Regisseur des japanischen
Kollektivs Niwagekidan Penino, der wie Toshiki Okada oder faifai zur
neuen Tokioter Theater-Szene gehört.
Im Bühnenraum des Orpheums schimmert eine karge Kraterlandschaft in
ungesund grünlichem Licht. Es wird Krieg geben, verraten die englischen
Übertitel des japanisch gesprochenen Texts, der aus dem Off hallt. Die
sprachlosen Bühnenkreaturen hat Yokoyama mit der charakteristisch
runden Kopfform seiner Comic-Helden ausgestattet, die sich in der
Dreidimensionalität des Theaters zu einer hybriden Form aus
traditionellem Kabuki-Theater, Space-Age-Design und Pop fügen. Der
ehrenvolle Samurai im traditionellen Gewand, der
ehrgeizig-rücksichtslose junge Held mit Schnabelkopf, Kinkeshi-Figuren,
deren riesige Muskelpakete zu Michelin-Männchen stilisiert sind – sie
alle agieren im Elementardrama: Liebe und Krieg.
Ein perfekt getimetes Bildertheater, dessen eigenwilliges
Bewegungsvokabular durch den genialen Breakbeat von Demetrio Castellucci
rhythmisiert wird. Leider erschöpft sich «Marzo» trotz aller
Virtuosität in Oberflächen: Viel mehr Empathie als den Avataren eines
beeindruckend animierten Computerspiels bringt man den Figuren nicht
entgegen.
Isolierte Bewusstseinslagen
Mit ihrem Installations-Projekt «Close Link» verbinden hoelb/hoeb
dagegen ein Anliegen, das weit über künstlerische Ambitionen
hinausgreift. Und eindrücklich belegt, dass Begegnungen mit fremden,
unerforschten und angstbesetzten Welten auch im Naheliegendsten möglich
sind: dem menschlichen Bewusstsein. Wie fühlt es sich an, wenn das wache
Bewusstsein vom eigenen Körper eingesperrt wird? Wie nehmen
schwerbehinderte Kinder Reize aus ihrer Umwelt wahr? In welcher Art von
Bewusstsein befinden sich Wachkomapatienten? Und welche Möglichkeiten
gibt es, mit Menschen in isolierten Bewusstseinslagen zu kommunizieren?
Barbara Hoelbling und Mario Höber haben diesen fragilen
existenziellen Beziehungssystemen jenseits von normaler Wahrnehmung und
Kommunikation ein Labyrinth aus parzellierten Räumen gebaut. In deren
Mitte verstört eine hochtechnisierte Intensivstation, deren
Beatmungsgerät ihr Sauerstoffgemisch lautstark ins Leere pumpt.
Verantwortet wird der wahrscheinlich closeste Link, der auf der Schwelle
zwischen Leben und Tod sichtbar ist, von Thomas Schelischansky, dem
Oberpfleger der Grazer Universitätsklinik. Wenn dem Laien im
Experten-Gespräch langsam ins Bewusstsein dringt, dass jede Form von
Anästhesie wesentlich das Gedächtnis ausschaltet, vor allem also die
Erinnerung an einen traumatischen Vorgang, fühlt sich das ziemlich
verstörend an. Im Nebenraum stößt das Team aus Neurologen und
Palliativmedizinern nicht nur an Sprachgrenzen, wenn es die oft stille,
subkutane Kommunikation mit Wachkomapatienten beschreiben will: Geist,
Präsenz oder Spiritualität sind vage Annäherungen an eine
Bewusstseinlage, die nur Erfahrung wirklich vermitteln kann.
Darin ist Kunibert Geiger, den 1996 ein schwerer Infarkt des
Hirnstamms vollständig gelähmt hatte, leider Experte. Im Rollstuhl
sitzend erzählt er vom Locked-in-Syndrom, von der einsamen Hilflosigkeit
und Wut gegenüber Oberärzten, die Todesprophezeiungen gedankenlos in
Hörweite ihrer Patienten äußern. Natürlich überwältigt den Besucher hier
allein schon der schwer fassbare Realitätszusammenhang, den Kunibert
Geiger verkörpert. Aber «Close Link» überzeugt auch mit künstlerischen
Strategien der Vermittlung: Das Ausstellungsprojekt haben hoelb/ hoeb
nach ihrer Arbeit am Film-Essay «Alexander» entwickelt, der dem
Familien-Alltag eines schwerbehinderten Jungen in langen
Kameraeinstellungen nachspürt. Damals sagte Alexanders Mutter, dass sie
im Film zum ersten Mal wirklich gesehen hat, wie schön ihr Kind ist.
Auf der Rückfahrt zum Flughafen gibt das Radio die ersten
Hochrechnungsergebnisse der Nationalratswahl bekannt. Das Land
Steiermark hat die rechtspopulistisch heimatverbundene FPÖ zur stärksten
Kraft gewählt, ihre Hauptstadt Graz «Die Grünen». Wahrscheinlich ist
nichts so wenig einfach wie «Natur».