Theater heute - 01.12.2013

Die steirische Eiche

In Stadt und Land ließ das Festival steirischer herbst über «Liaisons dangereuses» nachdenken



Die Natur ist einfach, die Natur seid ihr.» Mit dieser schlichten Formel leitet das Performance-Duo united sorry in seinen Programmtext zu «the forest project» ein. Einst war der Mensch in spiritueller Harmonie mit der Natur vereint, heute tankt ein profaneres Bewusstsein nur frische Luft in den Wäldern. «Und doch sehnen wir uns manchmal nach einer urtümlicheren Verbindung zur Natur. Woher kommt diese Lust? Woher überhaupt die Entfremdung?»


«Wie immer sind es mehr Fragen als Antworten, die uns bewegen», gibt die Festivalleitung des steirischen herbsts in ihrem Vorwort unumwunden zu. Gleichzeitig sprach das diesjährige Festivalmotto auch ausdrücklich eine Warnung aus: «Liaisons dangereuses: Alliancen, Mesal­liancen und falsche Freunde». Was aus der geografischen Distanz noch wie eine begriffliche Leerstelle wirkte, um diverse Themen, 108 Projekte, 500 Künstler und Theoretiker einen Festival-Monat lang zu klammern, fühlt sich plötzlich inmitten unzähliger Wahlplakate, die Graz an diesem Herbstwochenende wegen der Nationalratswahl verhüllen, sehr konkret an. «Die Natur ist einfach, die Natur seid ihr», hätte in aller Schlichtheit des Appells auch seinen Platz gefunden.


Mit Freizeit-Satyrn am Wasserfall



Einfach war natürlich nicht einmal der Weg zur Natur. Im site-spezifischen Wahrnehmungsmodus wird die reine Kontemplation der naturschönen Steiermark, dem «grünen Herzen Österreichs», schnell durch die Geschichte geografischer Ortsbezeichnungen getrübt – wenn der Zug in Judendorf hält oder an seinem Ziel: Peggau-Deutschfeistritz. «Då sit’zn dö, dö allweil då sit’zn», mahnt das liebevoll in Fraktur gestickte Motto der Peggauer Lurteuf’ln über ihrem Stammtisch. Im Gasthaus zur Post sitzen an diesem Nachmittag allerdings ausschließlich Zugereiste und stimmen sich mit warmen Getränken, Toilette und Heizung auf das Natur­erlebnis ein. In dunkler Holzgravur wachen «Gemeinschaft & Tradition» über den Schaukasten, in dem die prächtige golddurchwirkte Fahne der Kriegsveteranen Peggau-Deutschfeistritz auf ihren jährlichen Einsatz wartet, bevor der Nachwuchs aus den steirischen Wäldern ins Bundesheer zieht. «I hob’s scho gsäng, aba i sog nix!», meint die freundliche Kellnerin lächelnd zu «the forest project» und verschwindet hinter der Theke.


Auch die malerische Peggauer Burgruine bezeugt das charmante Bekenntnis, das der 55-jährige niederländische Performer Robert Steijn unten im Tal vor einer circa 70-köpfigen Gemeinde ablegt: Verheiratet ist er seit Jahrzehnten mit der Stadt, mit dem wilden Wald betreibt er gerade Ehebruch – dann stiefeln die zahlenden Voyeure der wehenden grauen Langhaarmähne in den Wald hinterher. Dazu klampft eine Gitarre. Schon bald ist man bei den united sorrys «zu Hause». Doch erst langsam erkennt man im Gehölz vereinzelte Performer, die sich mit kleinen, vorsich­tigen Bewegungen aus ihrer Symbiose mit Baum, Boden oder Fels lösen und dann wieder zu Skulpturen erstarren: ein minimalistisches Natur-Schau-Spiel. Das Ende wird diese stille Versunkenheit wieder aufgreifen: Nackte Körper ruhen im fließenden «Naturdenkmal» des imposanten Wasserfalls. Nicht kitschfrei, aber doch poetisch. Dazwischen muss man allerdings eine lange Weile sinnfreien Männlichkeitsritualen beiwohnen, deren libidinöses Elend mit baumharter Schwanzverlängerung und Efeukranz nüchtern kaum zu ertragen ist. Allein unter Freizeit-Satyrn fühlt sich die fragile Tänzerin Eun Kyung Lee so offensichtlich unwohl, dass sie über weite Strecken die Beobachterposition der Zuschauer teilt.


Ob «the forest project» tatsächlich auf einen «Zustand grüner Ekstase» zielte oder die Performance Art der Endsechziger parodieren wollte, bleibt ein Mysterium des Waldes. Im letzten Kriegsjahr richtete man übri­gens eine Außendienststelle des KZs Mauthausen ein, deren Häftlinge am Fuße der Peggauer Wand in der Stollenanlage arbeiten oder sterben mussten. Das kam irgendwie auch vor («Warum müssen überhaupt Waffenkammern sein?»). Welche Allianzen und Mesallianzen den site-spezifischen Produktionsprozess in Peggau begleitet haben, hätte man gerne gewusst.


Arnie’s Gym im Volkskundemuseum



Die Auftragsarbeit des steirischen herbsts war nicht die einzige Produktion, in der internationale Künstlerteams erhellende – wenn auch nicht immer im künstlerischen Sinne gelungene – Lokalbezüge herstellten. 2008 setzte der Italo-Schweizer Massimo Furlan bei den Wiener Festwochen dem größten historischen Triumph der Österreicher («Wunder von Cor­do­ba») gegen Erzfeind Deutschland («Schmach von Cordoba») ein außer­gewöhnliches Performance-Denkmal. Beim Reenactment des 3 : 2 (WM 1978, Argentinien) im Wiener Hanappi-Stadion spielte er 90 Minuten lang die Laufwege der Fußball-Legende Hans Krankl ohne Ball nach.


In Graz beschäftigte ihn nun die wahrscheinlich einzige lebende Figur echten mythologischen Ausmaßes: Arnold Schwarzenegger, die «Steirische Eiche». Der berühmteste Exportartikel der Steiermark («Als Kind hasste ich alles in Österreich. Die klassische Musik und die Museen. Ich hasste diesen alten Scheiß») hatte sich allerdings als Gouverneur von Kalifornien durch die Vollstreckung diverser Todesurteile bei seiner Grazer Fangemeinde so unbeliebt gemacht, dass das einst nach ihm benannte Sport-Stadion heute UPC-Arena heißt. Doch Massimo Furlan nähert sich seinem «Jugendidol» sportlich, verlegt den «Gym Club» aber in den beschaulichen Heimatsaal des Grazer Volkskundemuseums. Während sich das Publikum auf gymnastischen Langbänken arrangiert, stöhnen und schwitzen fünf eher mäßig durchtrainierte bis schwerfällige Performancekörper in Echtzeit. Fischgrät-Parkett, die unverwüstliche blaue Turnmatte und der grandios-groteske Drill der Leibeserziehungsbeauftragten Anne Delahaye stellen das «burleske» Geschehen allerdings eher in eine preußische Traditionslinie. Historisch korrekt erinnert die kollektive Leibesertüchtigung im Kostüm der 60er Jahre noch immer an die «Ärztliche Zimmergymnastik» von Moritz Schreber, bevor sie sich durch Aerobic und Pilates globalisiert.


Auch wenn Arnie als Schaumstoff-Event zum Schluss die Herkules-Apotheose mimen darf – auf Bodybuilding ist dieser «Gym Club» nicht spezialisiert, schon weil er die Liaisons dangereuses zwischen Mensch und Maschine ausblendet. Stattdessen turnt er eine komisch-absurde Langzeitbelichtung von Körperdisziplinierung, die nach quasi-religiöser Transzendenz strebt.


«Mohren-Apotheke» und «Gummi-Neger»



Im Moment der Schwebe befinden sich auch die sozialen Energien, die das Festivalzentrum im Ex-Zollamt am Bahnhofsgürtel verdichten will. Im Innenhof haben die Landschaftsarchitekten vom altelier le balto diesen fragilen Zustand in kleine, halbtransparente Häuser übersetzt, die von dünnen Metallstelzen in der Luft gehalten werden. Großformatig wirbt Alain Bornains «Top 50» für die Ausstellung «Liquid Assets. Nach der Transformation des Kapitals» mit internationalen Künstler-Perspektiven auf die fehlende Transparenz im globalen Finanzsystem. Und tatsächlich besitzt die 72.700.000.000 eine andere Präsenz, wenn sie als Ziffer hinter dem Namen Bill Gates erscheint.


Auf dem Weg vom Bahnhofsgürtel in die malerische Grazer Innenstadt passiert man das sichtbar strukturschwache «Annenviertel». Hier hat das Zentrum für zeitgenössische Kunst den Figuren, Gegenständen und Beschriftungen, die sich sonst gewohnt ins Stadtbild fügen, neonfarbene Sprechblasen verpasst. «Ich bin eine Fantasie von träumenden Weißen – allerdings schon ziemlich in die Jahre gekommen», bricht das Relief einer Schwarzafrikanerin ihr Schweigen, die in äußerst un­bequemer Körperhaltung an der «Mohren-Apotheke» hängt. Einen Zusammenhang zum Rassismus europäischer Kolonialgeschichte kann der Apotheker Christian Müller allerdings auf Nachfrage nicht erkennen. Eher einen eklatanten Mangel an Sachkenntnis österreichischer Tradi­tion. Recht ungehalten erinnert er an den berühmten Prinzenerzieher und Freimaurer Angelo Soliman. (Der nach seinem Ableben, nebenbei bemerkt, ausgestopft und im k. k. Hof-Naturalienkabinett ausgestellt wurde.) Am Schriftzug «Gummi-Neger» («Wir führen ein großes Sortiment an Gummi-Waren, Schläuchen, Dichtungen und Regenkleidung») eilt die ortsfremde Besucherin dann lieber vorbei und recherchiert bei «Annenpost»-online. Bei kritischen Nachfragen, ist dort zu lesen, erklärt der Geschäftsführer Heinz Siegl den «Neger» kurzerhand zum Familiennamen. Tatsächlich wollte man sich dereinst von der Konkurrenz in der Grazer Herrengasse absetzen, die ihren Kautschuk aus Amerika bezog: dem «Gummi-Indianer».


Castelluccis Manga-Kinder



In diese augenscheinliche Welthaltigkeit des Wahl- und herbst-Wochenendes landete das Tanztheater des italienischen Kollektivs Dewey Dell wie ein unbekanntes Gesamtkunstwerk im Auftrag eines fernen Planeten. Seit 2007 arbeiten Agata, Teodora und Demetrio Castellucci – die Kinder von Romeo – mit Eugenio Resta an einer Kunstsprache, die sich vom Alltag hermetisch abschließt. Für «Marzo» haben sie mit dem japanischen Manga-Comic-Zeichner Yuichi Yokoyama (Kostüme) zusammen gearbeitet und mit Kuro Tanino, Dramatiker und Regisseur des japanischen Kollektivs Niwagekidan Penino, der wie Toshiki Okada oder faifai zur neuen Tokioter Theater-Szene gehört.


Im Bühnenraum des Orpheums schimmert eine karge Kraterlandschaft in ungesund grünlichem Licht. Es wird Krieg geben, verraten die englischen Übertitel des japanisch gesprochenen Texts, der aus dem Off hallt. Die sprachlosen Bühnenkreaturen hat Yokoyama mit der charakter­istisch runden Kopfform seiner Comic-Helden ausgestattet, die sich in der Dreidimensionalität des Theaters zu einer hybriden Form aus traditionellem Kabuki-Theater, Space-Age-Design und Pop fügen. Der ehrenvolle Samurai im traditionellen Gewand, der ehrgeizig-rücksichtslose junge Held mit Schnabelkopf, Kinkeshi-Figuren, deren riesige Muskelpakete zu Michelin-Männchen stilisiert sind – sie alle agieren im Elementardrama: Liebe und Krieg.


Ein perfekt getimetes Bildertheater, dessen eigenwilliges Bewegungsvokabular durch den genialen Breakbeat von Demetrio Castellucci rhythmisiert wird. Leider erschöpft sich «Marzo» trotz aller Virtuosität in Oberflächen: Viel mehr Empathie als den Avataren eines beeindruckend animierten Computerspiels bringt man den Figuren nicht entgegen.


Isolierte Bewusstseinslagen



Mit ihrem Installations-Projekt «Close Link» verbinden hoelb/hoeb dagegen ein Anliegen, das weit über künstlerische Ambitionen hinausgreift. Und eindrücklich belegt, dass Begegnungen mit fremden, unerforschten und angstbesetzten Welten auch im Naheliegendsten möglich sind: dem menschlichen Bewusstsein. Wie fühlt es sich an, wenn das wache Bewusstsein vom eigenen Körper eingesperrt wird? Wie nehmen schwerbehinderte Kinder Reize aus ihrer Umwelt wahr? In welcher Art von Bewusstsein befinden sich Wachkomapatienten? Und welche Möglich­keiten gibt es, mit Menschen in isolierten Bewusstseinslagen zu kommunizieren?


Barbara Hoelbling und Mario Höber haben diesen fragilen existenziellen Beziehungssystemen jenseits von normaler Wahrnehmung und Kommunikation ein Labyrinth aus parzellierten Räumen gebaut. In deren Mitte verstört eine hochtechnisierte Intensivstation, deren Beatmungsgerät ihr Sauerstoffgemisch lautstark ins Leere pumpt. Verantwortet wird der wahrscheinlich closeste Link, der auf der Schwelle zwischen Leben und Tod sichtbar ist, von Thomas Schelischansky, dem Oberpfleger der Grazer Universitätsklinik. Wenn dem Laien im Experten-Gespräch langsam ins Bewusstsein dringt, dass jede Form von Anästhesie wesentlich das Gedächtnis ausschaltet, vor allem also die Erinnerung an einen traumatischen Vorgang, fühlt sich das ziemlich verstörend an. Im Nebenraum stößt das Team aus Neurologen und Palliativmedizinern nicht nur an Sprachgrenzen, wenn es die oft stille, subkutane Kommunikation mit Wachkoma­patienten beschreiben will: Geist, Präsenz oder Spiritualität sind vage Annäherungen an eine Bewusstseinlage, die nur Erfahrung wirklich vermitteln kann.


Darin ist Kunibert Geiger, den 1996 ein schwerer Infarkt des Hirnstamms vollständig gelähmt hatte, leider Experte. Im Rollstuhl sitzend erzählt er vom Locked-in-Syndrom, von der einsamen Hilflosigkeit und Wut gegenüber Oberärzten, die Todesprophezeiungen gedankenlos in Hörweite ihrer Patienten äußern. Natürlich überwältigt den Besucher hier allein schon der schwer fassbare Realitätszusammenhang, den Kunibert Geiger verkörpert. Aber «Close Link» überzeugt auch mit künstlerischen Strategien der Vermittlung: Das Ausstellungsprojekt haben hoelb/ hoeb nach ihrer Arbeit am Film-Essay «Alexander» entwickelt, der dem Familien-Alltag eines schwerbehinderten Jungen in langen Kamera­einstellungen nachspürt. Damals sagte Alexanders Mutter, dass sie im Film zum ersten Mal wirklich gesehen hat, wie schön ihr Kind ist.


Auf der Rückfahrt zum Flughafen gibt das Radio die ersten Hochrechnungsergebnisse der Nationalratswahl bekannt. Das Land Steiermark hat die rechtspopulistisch heimatverbundene FPÖ zur stärksten Kraft gewählt, ihre Hauptstadt Graz «Die Grünen». Wahrscheinlich ist nichts so wenig einfach wie «Natur».


Anja Quickert
wukonig.com